Als mein Vater starb, dachte ich, ich könne nie wieder in meinem Leben lachen. Innerlich war ich total leer und verspürte nichts weiter als eine furchtbare, brennende Trauer. Sie war so quälend schmerzhaft, das ich glaubte ich würde das nicht überleben. Ich kam mir so hilflos und unendlich allein gelassen vor. Der Mensch, der so wichtig für mich war und den ich ein Leben lang kannte, der mir so oft schon zur Seite stand, war nun fort. Für immer. Nichts würde mehr so sein wie früher.

Fassungslos stand ich vor dem leblosen Körper, in dem mal die Seele meines Vaters wohnte. Schluchzend schaute ich ihn an. Er kam mir plötzlich so fremd vor. Er sah so anders aus als ich es gewohnt war. Zwar hatte er sich schon durch seine Krankheit äußerlich sehr verändert, aber nun da er tot war, sah er noch fremder aus. Seine Augen waren so fest geschlossen, als wollten sie signalisieren Wir werden uns nie wieder öffnen. Wir werden Dich nie wieder ansehen, nie wieder anlächeln können. Das ist nun vorbei.

So hab ich sein Gesicht gestreichelt und mich verabschiedet. Ich hoffte seine Seele würde noch in der Nähe sein und meine Worte hören können. Denn tot in dem Sinne ist er ja nicht. Nur sein Körper ist es, seine Seele, sein Ich lebt weiter und ist in eine andere Dimension gewechselt. Dort werde ich ihn eines Tages wiedersehen, wenn auch meine Zeit gekommen ist. Nur, warum wollte mich diese Tatsache in diesem Moment nicht trösten? Warum hätte ich trotzdem so schreien können vor Wut, Trauer und Schmerz? Weil Liebe nicht gern gehen läßt. Und ich habe meinen Vater so sehr lieb, das ich ihn einfach nicht gehen lassen wollte.

Auch wenn ich heute weiß, es war besser für ihn. Nun muß er nicht mehr leiden. Sein Krebs ist nun fort und er hat keine Schmerzen mehr. Allein dieser Gedanke tröstet mich nun wirklich, denn ich habe ihn 2 Jahre leiden sehen und das war schon viel zu lang. Nun hat er seinen Frieden und ist mit denen zusammen, die auch er seinerzeit gehen lassen mußte.

Ein wenig möchte ich über meinen Vater erzählen, denn er war wirklich ein ganz besonderer Mensch. Und das sage ich nicht nur weil ich seine Tochter bin, sondern weil das auch andere sagen, die ihn kannten, egal ob Verwandte, Freunde, Nachbarn, Mitarbeiter oder Meisterkollegen.

Geboren wurde mein Vater am 12. August 1939 in Königsberg. Viel kann ich natürlich nicht über diese Zeit erzählen. Wie jeder weiß war gerade Krieg, also keine leichte Zeit für meine Großeltern und meinen Vater. Er wurde in eine Welt der Zerstörung, des Fremdenhasses und der Armut geboren. Sein Vater war als Soldat im Krieg, in dem er in russische Gefangenschaft geriet und seine Mutter war ständig auf der Flucht. Ich bin froh das ich das nicht miterleben mußte. Das war sicher furchtbar das alles zu erleben und täglich ums Überleben zu kämpfen.

So verlor mein Vater in dieser Zeit seinen jüngeren Bruder, der nur 6 Wochen alt wurde. Er ist schlicht an den Folgen des Krieges gestorben, denn meine Oma hatte durch den Hunger und den Stress der Flucht keine Milch mehr. So hat mein Vater schon früh den ersten Verlust hinnehmen müssen. Bruder gestorben und Vater in Gefangenschaft. Also schlugen meine Oma und er sich also durch die Wirren des Krieges, auf der Suche nach Frieden und Geborgenheit.

Nach dem Krieg dann kam irgendwann mein Opa wieder nach Hause, gottseidank. Er hatte die Gefangenschaft ohne größeren Schaden überlebt und war wieder bei seiner Familie. Nun konnte mein Dad auch seinen Vater endlich kennenlernen. Bisher war er ihm nämlich noch nicht begegnet, da mein Dad ja während des Kriegs geboren wurde und da war mein Opa schon an der Front. So langsam kehrte wieder das normale Leben ein und man besuchte die Verwandten, um zu sehen wer alles den Krieg überlebt hatte.

Mein Vater war dann später auch oft in den Ferien bei seiner Tante väterlicherseits. Sie hatte einen Sohn, Sigmar, der etwas jünger war als mein Dad. Aber die beiden Jungs verstanden sich prächtig und stellten immer jede Menge Unsinn zusammen an. In Stralsund, wo sie lebten, verbrachten sie im Sommer den Tag am Strand und im Wasser. Damals konnte man ja noch mit Garantie sagen das der Sommer heiß und trocken wird. Und so wuchs mein Vater dann heran, entwickelte sich prächtig und wurde in der Schule ein richtiger Musterschüler, hatte er doch in fast jedem Fach eine 1.

Die weiterführende Schule besuchte mein Vater dann in Berlin, das er so liebte. Dort machte er sein Abitur mit suma cum laude und lernte während der Schulzeit seinen besten Freund Ecki kennen. Sie wurden zu den besten Freunden und schworen sich nach dem Abitur niemals aus den Augen zu verlieren und immer Kontakt zu halten. Tja, wie es so oft im Leben ist, blieb es bei dem Vorsatz.

Mein Vater studierte anschließend Volkswirtschaft, er wollte gern Finanzbeamter werden. In den Semesterferien irgendwo zwischen dem vierten und sechsten Semester, da bin ich nicht so ganz sicher, lernte mein Dad dann meine Mutter kennen. Ich weiß bis heute nicht wie mein Vater in den Semesterferien von Berlin nach Bad Salzuflen kam, aber dort war er und dort jobbte er in einer Kugelschreiberfabrik um sich ein wenig Geld nebenher zu verdienen.

Naja, in dieser Fabrik lernte mein Dad dann halt meine Mutter kennen. Meine Mutter lebte gerade in Scheidung und hatte aus dieser Ehe bereits 4 Kinder, meine Halbgeschwister. Na was soll ich sagen, nach der Scheidung machte mein Vater meiner Mutter einen Antrag und sie heirateten. Sie zogen um nach Gladbeck und bald darauf wurde ich geboren.

Mein Vater brach natürlich sein Studium ab, denn er mußte nun Geld verdienen um 5 Kinder und 2 Erwachsene zu ernähren. Damals suchten sie in Gelsenkirchen-Buer-Scholven bei der damals so genannten Scholven-Chemie Leute für die Produktion. Mein Vater bewarb sich und wurde angenommen. Als Hilfsarbeiter. Naja, das war dann schon ein ziemlicher Fall, vom aussichtsreichen Studenten zum Hilfsarbeiter.

Aber mein Dad biss sich durch und arbeitete sich hoch. Er machte bald seinen Chemiefacharbeiter und Ende der 70er Jahre dann den Industriemeister Fachrichtung Chemie. Ab diesem Zeitpunkt verdiente er noch mehr Geld. Daher beschlossen meine Eltern ein Haus zu bauen. Meine Geschwister waren zwar schon verheiratet und aus dem Haus, dennoch, ein eigenes Haus war der Traum meiner Eltern und nun wurde er Wirklichkeit.

Nicht nur die Mitarbeiter meines Vaters verehrten ihn, sondern auch die neuen Nachbarn hatten ruckzuck einen Narren an meinem Vater gefressen. Es war nicht schwer ihn zu mögen. Seine sanfte und ruhige Art hat jedes Herz im Sturm erobert. Jeder riss sich darum ihm etwas gutes zu tun und so brauchte er z.B. seine Mitarbeiter nie zur Arbeit auffordern. Ihnen war es von sich aus ein Bedürfnis ihrem Meister Freude und Ehre zu bereiten. Dieses Phänomen haben die anderen Meister und auch Obermeister oder Betriebsassistenten nie klären können, aber sie verstanden es. Denn auch bei ihnen war mein Dad beliebt.

Tja, dann kam der Zeitpunkt als mein Vater das Angebot kam in den Vorruhestand zu gehen. Gegen eine satte Abfindung konnte er schon einige Jahre früher aufhören zu arbeiten. Dieses Angebot nahm er gern an. So konnte er sich endlich ein bischen erholen und das tun was er so gern tat: Reisen! Er hatte ja schon eine Einladung zu einem Klassentreffen in Berlin bekommen und die natürlich angenommen.

Dort traf er nach so vielen Jahren jemand besonderes wieder: Ecki! Die Freude war riesengroß und man beschloss dieses Mal nicht noch einmal den Kontakt abbrechen zu lassen. So wurde sich gegenseitig besucht und auch bald Eckis 60. Geburtstag in Berlin gefeiert. Selbst meine nörgelnde Mutter fühlte sich in Berlin pudelwohl. 1999 dann war der 60. Geburtstag meines Vaters. Es war ein schönes Fest mit unzähligen Gästen und auch Ecki mit Frau waren da.

Einige Monate später nahm das Schicksal dann seinen Lauf. Mein Vater hatte einen schlimmen Blutsturz auf der Toilette. Im Krankenhaus wurde er durchgecheckt und dann kam die vernichtende Nachricht: Darmkrebs! Es folgte die Operation und alles schien wieder in Ordnung, die Werte waren zuerst zufriedenstellend. Doch plötzlich stiegen die Krebswerte wieder an und das immer weiter. Man suchte und suchte und wurde dann fündig: Leberkrebs! Der Darmkrebs hatte in die Leber gestreut, wie das häufig vorkommt.

Doch eine Operation war hier ausgeschlossen, da das Karzinom direkt an der Schlagader saß und somit inoperabel war. Es folgten verschiedene Chemos, die meinen Vater regelrecht dahinrafften. Er verlor alle Haare und seinen so gepflegten Bart auf den er so stolz war. Die Haare die nachwuchsen waren nicht mehr schwarz, sondern grau. Er alterte zusehends um Jahre. Es war so furchtbar zuzusehen, ihn leiden zu sehen und nicht helfen zu können. Irgendwann hat er dann aufgegeben. Er hat heimlich alles für seine Beerdigung geregelt, die Chemo abgesetzt und dem Tod entgegengesehen. Bis zu dem Tag an dem wir dann so plötzlich an sein Sterbebett gerufen wurden.

Die letzten Stunden verbrachte ich an seinem Bett, schlief nicht, wich nicht von seiner Seite und hielt seine Hand. Er lag leider schon in der Phase des Übergangs. Hatte die Augen geschlossen und war nicht mehr ansprechbar, konnte sich nicht mehr bewegen. Aber in der letzten Nacht, die ich mit meinem Mann zusammen bei ihm im Zimmer verbringen durfte, hatte ich die Gelegenheit ihm noch so einiges zu sagen, auch wie lieb ich ihn habe. Und als es soweit war, das er seine letzten Atemzüge machte, drückte er mir zum Abschied ganz sacht die Hand.

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Tretet her, Ihr meine Lieben.
Nehmet Abschied weint nicht mehr.
Hilfe konnt ich nicht mehr finden, meine Krankheit war zu schwer.
Manchmal wollte ich verzagen, hab gedacht, ich trüg es nie.
Und ich hab es doch ertragen, aber fraget nur nicht wie.